Professor Gul und das Kaspische Meer
Es gibt Momente, in denen ich mich Frage, ob unser Drang in die Ferne zu schweifen bereits pathologische Züge annimmt. Meist sind es Momente der großen Ungewissheit, gerne kombiniert mit Müdigkeit, Hunger und anderen menschlichen Grundbedürfnissen.Der Zustand verflüchtigt sich normalerweise schnell, sodass meine Nervenzellen die Suche nach einer Antwort wieder einstellen. Doch auf unserem Weg über das Kaspische Meer drängt die Frage nicht nur einmal in mein Hirn.
Der weitläufige, fast leergefegte Parkplatz im Hafen von Alat
80 Kilometer südlich von Baku. Einzig eine Handvoll LKWs parkt im Randbereich. Davor lungern Fahrer im Schatten ihrer Trucks. Weit und breit ist kein Hinweisschild für einen Ticketschalter auszumachen. Ein Mann mit blauem Baseball-Cap zeigt auf den freien Platz zwischen zwei LKWs und möchte für unser Auto zehn Dollar Parkgebühr kassieren. Ausweisen kann er sich nicht. Wir lehnen dankend ab und fahren in eine Ecke, in der ein paar Containergebäude stehen. Mit dem Öffnen der Autotüren brüllt uns die hochsommerliche Hitze entgegen. Auf der Rückseite eines Blechbüros entdecken wir ein Schild mit den Ticketpreisen. Wir klopfen an die Tür, warten, klopfen wieder. Warten minutenlang. Meine Kopfhaut fängt zu glühen an. Endlich öffnet ein Beamter die Tür und bittet uns herein. Er setzt sich zurück an seinen Schreibtisch im klimatisierten Büro und teilt uns gelangweilt mit, dass die 50-jährige Fähre mit Namen ‚Professor Gul‘ irgendwann in den nächsten Stunden eintreffen könnte. Vielleicht am nächsten Morgen, vielleicht auch erst den Tag darauf. Er weiß es nicht. Alle drei bis fünf Tage fährt ein Schiff von Aserbaidschan nach Kasachstan, nie aber nach Plan. Er drückt uns seine Telefonnummer in die Hand, wir sollen ihn am kommenden Morgen sehr früh anrufen. Besser noch: Wir bleiben im Hafen.
Die Sonne versinkt bereits hinter den kahlen, ockerfarbenen Hügeln
Wir sind müde und haben Hunger. Eine ungewisse Zeit auf dem Parkplatz zu warten, ist keine Option, doch neben dem Hafenareal gibt es ein einsames Hotel. Es ist scheußlich. Eine alternativlose Absteige für Fernfahrer. Die Leintücher im Hotelzimmer tragen Spuren des letzten Gastes, das Bad trägt Spuren ganzer Generationen. Der Wirt verlangt einen Wucherpreis für das dreckige Loch. Wir bestellen etwas zu essen, um wieder klar denken zu können. Im Barbereich breitet sich der Staub über den Möbeln aus, das Kunstleder auf den Stühlen ist zerrissen und die Resopaltische verklebt. Der Chef serviert auf Plastiktellern ein Gericht aus der nächsten Imbissbude. Ein paar lieblose Tomaten, ein paar Gurkenstücke, ein Ei, zwei trockene Hühnerschenkel. Er kassiert 20 Euro, Aserbaidschaner sind Schlitzohren. Wir trauen dem Ganoven weitere Zockereien zu, zahlen und flüchten Richtung Baku. 20 Kilometer nördlich finden wir ein einfaches Zimmer, alles blitzsauber, ein freundlicher Wirt, der uns verspricht, den Beamten im Hafen um eine verlässliche Auskunft zu löchern.
Unser Gastgeber weckt uns mit einer Tasse starkem Kaffee und der Information, dass er unter der Telefonnummer niemanden erreichen konnte. Wir hetzten zurück in den Hafen. Heute geht es schneller, der Beamte hat Unterstützung, weil die Fähre gegen Mittag einlaufen könnte. Das Ticket dürfen wir bereits erwerben, mit Vollpension, Doppelkabine und eigenem Bad. Luxus auf Professor Gul. Die nächsten Stunden verbringen wir damit, im Hafen eintreffende Reisende kennenzulernen, klebrig süße Melonenschnitze zu verteilen und möglichst bewegungsarm auf den spärlichen Schattenplätzen in der Hitze auszuharren.
Nachmittags geht es tatsächlich los: Ein Zollbeamter schickt uns zum Nächsten, jeder will den Pass checken, jeder will ins Auto sehen, jeder will nochmal kontrollieren. Einer weist mich an, das gesamte Gepäck 1000 Meter weiter in ein Gebäude zum Scannen zu tragen. Ich frage den Grenzer etwas ungehalten, wie ich das anstellen soll. Er wirft einen zweiten Blick in unser Auto und befindet, dass ich ohne Gepäck laufen darf. Benno fährt hinterher, wirft zwei Reisetaschen auf das Röntgengerät und sammelt mich wieder ein. Jede Regel muss man nicht verstehen.
An Bord der Professor Gul empfängt uns eine füllige Zimmerdame
Sie überreicht uns einen Stapel Handtücher und Bettwäsche, schiebt uns zu unserer Kabine und drückt uns den Schlüssel in die Hand. Meine Vorahnung erfüllt sich: Das Bad ist dreckig, die Armaturen rostig, die Fenster mit dicken Salzkrusten überzogen, die Stockbett-Pritschen hängen an besorgniserregend maroden Bändern und sind so schmal, dass jede Bewegung zum Verhängnis werden könnte. Beim Blick auf die nackte aber nicht unbefleckte Matratze versuche ich aktiv das Denken einzustellen. Die besonders dünne und löchrige Stelle des Leintuches platziere ich am Fußende, das muffige Kissen tausche ich gegen meine zusammengeknautschte Jacke. Lieber der eigene Mief.
Die Fähre schaukelt noch im Hafenbecken, da trommelt die Zimmerfrau gegen unsere Kabinentüre: ‚Dinner! Come, come!‘. In der Schiffskantine bekomme ich auf meine Bitte nach etwas Fleischlosem eine Kelle Reis und Linsen auf meinen Teller geklatscht, dazu eine Scheibe gummiartiges Weißbrot und ein grellgrünes Softgetränk, das nach Anis schmeckt. Straflagerkost. Zum Nachtisch gibt es Chai aus dem Pappbecher. Nicht den süßen, mit Milch und Gewürzen aromatisierten Tee, sondern einen starken Schwarztee, der im Nahen Osten überall gereicht wird. Wir nehmen die Becher mit auf das Oberdeck und genießen die milden Temperaturen und das pastellfarbene Abendlicht. Immer mehr Passagiere leisten uns Gesellschaft, einige Truckfahrer, einige Weltreisende. Da ist Martin, der junge Schweizer mit ungarischen Wurzeln, der bereits seit neun Jahren zu Fuß über alle Kontinente läuft. Sesshaft werden? Undenkbar! Und da ist Montse, eine blutjunge Spanierin, die alleine mit einem schweren Motorrad auf dem Weg von Spanien nach Tadschikistan ist, und soeben festgestellt hat, dass sie schwanger ist. Von den vielen Stimmen an Bord erhofft sie sich einen Segen für ihre Weiterfahrt. Fabian ist aus Bayern mit dem Rad gestartet und hat kein Ziel vor seinen jungen Augen. Vielleicht Australien, vielleicht Südostasien. Und Kathleen erfüllt sich einen langen Traum. Sie fährt mit einem Mercedes-Sprinter Richtung Usbekistan. Ebenfalls alleine. Dass sie kurz vor der Abreise knapp dem Sensenmann von der Schippe gesprungen ist, hindert sie nicht. Die Schädeldecke muss nach ihrem Unfall einfach im Ausland zuwachsen. Mich beruhigt sehr, dass sie selber Ärztin ist.
Als die Maschinen der Professor Gul endlich zu arbeiten beginnen und dicker, schwarzer Ruß aus den Schornsteinen quillt, ist der Horizont bereits in der Dunkelheit versunken und der größte Teil der Passagiere auf Deck eng zusammengerutscht. Zwei Truckfahrer heben die Stimmung mit Raki und türkischen Liedern. Benno kontert mit einem rauen, irischen Song. Das Meer schaukelt uns durch die Nacht, wir sind versöhnt mit unserer Reisesucht.
Bis zur Ankunft in Kasachstan vergeht ein gesamter Tag
Zwischen den kargen Mahlzeiten lassen wir uns den Wind an Deck um die Ohren wehen und lauschen den Erlebnissen der Reisenden. In der Dämmerung läuft die Professor Gul in den Hafen von Aktau ein. Wir müssen unsere Betten abziehen, die Kabine räumen und warten. Lange warten. Es ist bereits wieder dunkel, als der Aufruf zur Passkontrolle im Gemeinschaftsraum kommt. Die Speckrollen in einen Militäroverall gequetscht, kontrolliert eine füllige Kasachin mit dickem, schwarzen Zopf unsere Pässe, drückt uns scherzend den Einreisestempel auf die Papiere und heißt uns Willkommen. Die Freude währt kurz, an Land benötigen wir weitere Stempel. Wir laufen von einem Schalter zum Nächsten, niemand kennt sich aus, niemand will helfen, niemanden fühlt sich verantwortlich. Es ist weit nach Mitternacht, als wir endlich alle Stempel eingesammelt haben und vor der letzten Schranke stehen. Ein Grenzer öffnet meine Türe, mustert mich aus schmalen Augenschlitzen und raunzt mich an auszusteigen. Ich verlasse das Auto und bleibe unsicher ein paar Schritte entfernt stehen. Der Typ mit dem breiten, flachen Gesicht, dem kurz geschorenen Haar und dem Auftritt eines Boxchampions steigt auf den Beifahrersitz und schließt die Türe. Wenig später verlässt er kommentarlos das Auto, geht zur Schranke und öffnet. Gespannt frage ich Benno, mit welchen Summen er den Grenzer bezirzen musste. Ganz simpel: mit den geforderten zehn Dollar. Und einer Dose gekühltem deutschen Redbull – das Allroundmittel bei jeder Grenzüberquerung in Zentralasien. Martin, der Fußgänger, hat mit seinem übersichtlichen Gepäck nicht so viel Glück. Er muss seine Ray-Ban Sonnenbrille abgeben, bevor er Kasachstan erkunden darf.